Die Erfindung des WWWs hat eine "Point, Click und mach es mir einfach"-Mentalität in eine Welt durchdringen lassen, die niemals zur Benutzung durch nicht technisch interessierte Menschen gedacht war. Daß die Massen mit solch fragwürdigen Hilfsmitteln wie Netscapes integriertem Newsreader oder über das fehlerhafte News-/Diskussionsforums-Interface von AOL auf das Usenet losgelassen werden, spielt eine Schlüsselrolle im fortschreitenden Zerfall des Netzes.
Der Unterschied liegt heute in der breiten Verfügbarkeit von Softwareprodukten, die auf einen immer kleineren gemeinsamen Nenner abzielen: Die häufige Feststellung vieler Leute "Ich bin kein Computermensch", begleitet durch "Ich will nur, daß es funktioniert" wird in einem Maße betont, das sich früher niemand hätte vorstellen können. Newsreader, Mailprogramme, Web-Browser und sogar HTML-Generatoren sollen neuerdings nicht mehr lediglich effiziente und mächtige Werkzeuge zum Datenaustausch zur Verfügung stellen. Sie werden stattdessen künstlich vereinfacht; grundlegende Funktionen und Funktionalität werden geopfert, damit der Benutzer nicht verängstigt wird und denkt: "Das ist zu schwierig" oder "Nur ein Computermensch kann sowas".
In Wahrheit ist das gefährlich: Im großen und ganzen sind GUI-Clients (besonders die für Windows verfügbaren, obwohl es auch für Macs eine ganze Reihe furchtbarer Dinge gibt) aufgeblasene, schlecht programmierte Arbeiten, die einen daran hindern, die eigene Netzerfahrung zu nutzen.
Newsreadern fehlen Filterfunktionen, die es dem Benutzer erlauben, das beste Signal-zu-Rauschen-Verhältnis in den Usenet-Newsgruppen zu erhalten. Sie erlauben das Posten falsch formatierter, optisch unlesbarer Artikel und geben keine Hilfestellungen zu Umgangsformen und Verhaltensweisen im Netz. Daß das zu Problemen führen kann, bedenken die Autoren dieser Software nicht.
Mailprogramme halten sich (oft? manchmal?) nicht an gültige Header- und Codierungsstandards. Sie erzeugen dadurch Mail, die häufig nicht gelesen werden kann.
Web-Browser nehmen unnötig maschinelle Ressourcen in Anspruch und integrieren nur halbherzige Mail- und Newslesefunktionen in ihren Code. HTML-Editoren begrenzen in zunehmendem Maße die Kontrolle des Autors über das Endprodukt und erzeugen aufgeblähten oder fehlerhaften HTML-Code. Gelegentlich erlauben sie nicht einmal das Editieren der fertigen Datei.
Unter dem Etikett "einfach zu benutzen" handelt man sich massenhaft Software ein, die kaum ihre Arbeit tun kann; der Benutzer hat selten die Gelegenheit oder den Antrieb, etwas Besseres zu verlangen.
Möglicherweise ist dies ein Schritt dahin, Computing den Massen nahezubringen, aber man muß dafür möglicherweise einen zu hohen Preis bezahlen: Statt einer Kaste Erleuchteter, die einen Computer bedienen können und einer anderen, die etwas so Kompliziertes nie lernen könnte, bekommen wir eine Kaste, die Vorgänge auf höherem Niveau versteht, und eine, deren Hand man an jeder Wegkreuzung halten muß; die mit hübschen Knöpfen spielen muß, um irgendetwas getan zu bekommen.
Solch ein Kastensystem nagelt einen -- im Gegensatz zu einem lockeren Klassensystem -- an einer Stelle fest, erzeugt und verstärkt strenge Grenzen und erzeugt keinen Antrieb zu Verbesserungen.
Wenigstens eine gute Nachricht gibt es: Man braucht kein Kastensystem.
"Aber ich habe keine Zeit dazu!", sagen Sie. "Ich will doch bloß, daß meine Sachen funktionieren: Ich will mich hinsetzen und E-Mail schreiben und bekommen/Usenet-News lesen/im Web surfen/mich mit Leuten unterhalten." Hier sollten Sie innehalten, und sich ein paar Fragen stellen:
Gehen Sie Golf spielen, ohne zu wissen, wie man einen Schläger hält? Malen Sie, ohne zu wissen, wie man einen Pinsel auswäscht? Arbeiten Sie ohne die nötigen Sicherheitsmaßnahmen? Spielen Sie ein Instrument, ohne wenigstens ein paar musikalische Grundkenntnisse zu haben?
Wahrscheinlich werden Sie nicht nur erfolglos sein, wenn Sie eines der vorgenannten Dinge unternehmen -- Sie werden sicher auch frustriert sein: Wenn Ihre Pinsel keine Farbe halten, werden Sie das Malen schnell aufgeben. Wenn Ihr Golfschläger Ihnen immer aus der Hand fällt, wenn Sie mit dem Schläger ständig Steine oder Bäume treffen und der Schläger dabei kaputt geht oder wenn Sie Ihre Muskeln verletzen -- Sie werden Golf Golf sein lassen. Und wenn sich Ihre Nachbarn über den Lärm beschweren, werden Sie Ihr Instrument frustriert in die Ecke stellen.
Entweder das oder Sie lernen die nötigen Fähigkeiten. Wäre es nicht besser, ein paar vernünftige Grundlagen zu kennen, damit Sie das Beste aus Ihrem Hobby herausholen und es Ihnen noch mehr Spaß macht?
Sie wissen natürlich, daß Sie Ihre Arbeit besser tun, wenn Sie grundlegende Kenntnisse von dem haben, was Sie tun wollen.
Wenn Sie im Rahmen Ihrer Arbeit aus dem einen oder anderen Grund E-Mail austauschen, wird es kaum besonders professionell aussehen, wenn Sie eine E-Mail verschicken, deren Text über das Terminalfenster des Empfängers scrollt oder so formatiert ist, daß der Empfänger sie nicht lesen kann.
Wenn Sie Informationen über Ihr Geschäft im Usenet posten und alles IN GROSSBUCHSTABEN geschrieben haben, könnte das Ihren Umsatz schmälern: ALLES IN GROSSBUCHSTABEN wird als Brüllen interpretiert. Wenn Ihr Posting viele Orthographie- und Zeichensetzungsfehler enthält, wird das als Zeichen von Unkenntnis oder niedriger Intelligenz bewertet. Übermäßig viel Leerraum zu Beginn des Schreibens führt dazu, daß die meisten Leute dieses Posting gar nicht erst lesen. Wenn Sie in ungeeignete Newsgroups posten und/oder Ihren Text in unerwünschte Massenmails packen, wird das Ihrem Umsatz auch nicht besonders guttun.
Wenn Sie eine Webseite aufsetzen, werden riesige, langsam zu ladende Grafiken und schlechtes HTML die meisten Leute veranlassen, diese Seite zu überspringen -- und was dann?
Zu lernen, wie man ein Werkzeug gut und verantwortungsvoll einsetzt, wird Ihnen helfen, effizienter zu arbeiten.
Wenn Sie bis hierher gelesen haben, ist es wahrscheinlich, daß Sie das tun. Wozu brauchen Sie dann Software, die glaubt, Sie seien dumm? Überlegen Sie sich bitte einmal für einen Moment: Einige der beliebtesten Computerbücher sind die "Für Dummies" und "Idiotenführer"-Serien.
Seit wann ist jemand ein Idiot, weil er ein Anfänger ist? Viele Programme werden sowohl von ihren Herstellern als auch von den ISPs, die sie vertreiben, mit Sprüchen beworben, die letztlich auf "Jetzt können Sie ins Internet, ohne daß es schwierig ist" hinauslaufen.
In Wahrheit war es auch vor der Erfindung der GUI-Software nicht schwierig. Sie können immer noch problemlos verläßliche, mächtige Programme benutzen, um das, was Sie tun wollen, getan zu bekommen. Sie müssen natürlich wissen, wie man liest. Allerdings müssen Sie auch lesen können, damit Sie GUI-Programme benutzen können (Haben Sie die help-Dateien gelesen?).
Damit man die Massen möglichst schnell online bekommt, beinhaltet die Dokumentation, die von Service Providern und Softwareherstellern verbreitet wird, selten Hinweise auf relevante Informationen über Netiquette und Protokolle.
Dadurch wissen Sie nicht nur nicht, was Sie überhaupt tun -- Sie lernen möglicherweise nie, was Sie denn falsch machen (und es fällt Ihnen schwer, zu verstehen, warum Sie wegen Ihres Postings angemacht werden oder wegen der Dinge, die Sie im IRC gesagt haben oder wegen der E-Mail, die Sie an 47 Leute geschickt haben, deren Adressen alle im Header standen).
Sie gehen wahrscheinlich nicht zu einer Party, ohne vorher herauszufinden, welche Kleidung dort erwartet wird. Sie reisen ohne passendes Wörterbuch nicht in ein anderes Land. Sie verschaffen sich vor der Reise einen Überblick über die örtlichen Sitten, damit Sie zum Beispiel wissen, daß Ihnen im Restaurant eines chinesischen Dorfes niemand eine Gabel reichen wird.
Warum also hat man Ihnen den Eindruck vermittelt, Sie müßten nichts über die Internet-Subkultur oder Gepflogenheiten wissen, bevor Sie loslegen?
Wenn Sie bloß auf hübsche Bildchen starren und sich mit niemand unterhalten wollen, können Sie dieses ganze Essay sowieso vergessen (obwohl Sie vielleicht ahnen, daß sich Ihr Ziel ändern könnte). Wenn Sie lange verlorene Freunde wiederfinden oder eine E-Mail an Ihren Ehegatten schicken wollen, ist das ein wirklich gutes Ziel. Sie sind möglicherweise daran interessiert, ein Diskussionsforum mit Gleichgesinnten zu finden, Sie möchten sich in Echtzeit mit anderen Leuten unterhalten, Sie möchten Spiele spielen, Sie möchten eine elektronische Zeitung veröffentlichen... Das sind alles Ziele.
Sie sollten nur wissen, was Sie vom Netz wollen, und nicht mit der Einstellung herangehen, das Netz werde Ihnen Ihr Ziel schon zeigen.
Finden Sie heraus, ob die Informationen, die Sie suchen, schon irgendwo verfügbar ist, bevor Sie anfangen, überall hin zu posten und danach zu fragen. Dazu einige Hinweise:
Oft sind die Probleme, die Ihnen online begegnen, Probleme, die Sie selber lösen können -- ohne jede fremde Hilfe, nur mit Hilfe der Dokumentation. (Auf diese Weise können Sie Probleme selbst dann erkennen, wenn sie nichts mit Ihrem System zu tun hat, und intelligente Fragen dazu stellen.) Auf alle Fälle sitzen Sie unter Umständen sehr auf dem Trockenen, wenn Sie die Dokumentation nicht lesen.
Erinnern Sie sich daran: Die meiste Zeit brauchen Sie niemand, der Ihre Hand hält.
Stellen Sie sicher, daß dem Produkt gute Dokumentation beiliegt oder daß es Bücher zum Thema gibt, die Sie nicht herablassend behandeln.
Zugegeben, an einigen Stellen werden Sie Konzessionen machen müssen (Beispielsweise sind heutzutage die meisten Web-Seiten für Netscape oder Microsoft Internet Explorer entworfen)...
Nochmals: Das meiste, was Sie wissen sollten, sollte in der Dokumentation (welcher Software auch immer) enthalten sein. Der technische Support der ISPs der ganzen Welt verbringt täglich Stunden damit, mit unklaren Fragen von Leuten zu kämpfen, die sich nicht bemüht oder aus irgendeinem Grund nicht verstanden haben, daß sie die Dokumentation lesen sollten. Technischer Support ist daher eine der anstrengendsten Tätigkeiten, die irgendjemand ausführen kann. Seien Sie rücksichtsvoll, und übernehmen Sie selbst soviel Verantwortung, wie Sie können.
Es ist eine Sache, um Hilfe zu fragen, wenn Ihnen etwas über den Kopf gewachsen ist. Die andere Sache ist, daß Sie -- nochmals! -- niemand brauchen, der Ihre Hand hält. Vieles von dem, was Sie wissen müssen, ist von selbst klar.
(Etwas, was Sie aus diesem Artikel behalten sollten, ist: Sie lassen sich davon abhalten, zu lernen, wie Sie Dinge selbst tun, wenn Sie sich dauernd auf den technischen Support verlassen!)
Wie hilft Ihnen all dies, Ihre Wirkung auf das Internet zu verbessern?
Wenn Sie nunmehr gute Manieren und Übung im Umgang mit Ihrer Software besitzen, sollten Sie sich die Inhalte genauer anschauen, die Sie zu verschiedenen, Ihnen zugänglichen Foren beitragen.
Während Sie nicht zu wissen brauchen, wie man aus dem Nichts ein Auto baut (Das wird niemand von Ihnen erwarten.), kennen Sie trotzdem nicht nur die grundlegenden Verkehrsregeln. Sie wissen auch, wie Sie Ihren Benzintank füllen und den Ölstand kontrollieren. Die meisten Probleme, die den Leuten im Netz begegnen, drehen sich darum, daß sie die Grundlagen nicht beherrschen, und glauben, sie könnten sie nicht lernen.
Sie können es. Wenn Sie lesen können, können Sie diese Dinge lernen, und mit etwas Entschlossenheit und Zielbewußtsein werden Sie es tun. Dann werden Sie die besten Lösungen für Ihre Probleme selbst herausfinden, ohne sich auf Teilanstrengungen zu verlassen, die Sie letztlich hemmen und behindern.
Und das Beste von allem ist: Sie brauchen sich nicht vorzukommen, als ob der Umgang mit Computern jenseits Ihrer Fähigkeiten liegt.
Natürlich liegt die überlegene Ironie des Ganzen darin, daß niemand aus der Zielgruppe es je lesen wird. seufz
"Das Netz braucht mündige Benutzer" stammt in der englischen Originalfassung von Beverly R. White und wurde von ihr am 12. Juni 1997 unter der MessageID 5nqe4i$rmc@huitzilo.tezcat.com in der Newsgruppe alt.sysadmin.recovery veröffentlicht.Peter Berlich übersetzte den Artikel ins Deutsche. Er und Patricia Jung sind für (sprachliche) Anpassung, Bearbeitung und Anmerkungen, die deutschsprachigen Newsgroups betreffend, verantwortlich. Dank an Lutz Donnerhacke für die ursprüngliche "`HTMLisierung"'.
Mit 'ich' meint Beverley sich selbst.
© 1997 B. R. White
© der deutschen Fassung 1997 P. Berlich und P. Jung