Das Netz braucht mündige Benutzer

Beverly R. White

Deutsche Fassung von Peter Berlich und Patricia Jung (Version 0.9)

Anfang der Tirade

Warum dieser Artikel überhaupt existiert...

Während der letzten Jahre haben wir gesehen, wie das Internet gewachsen ist und sich rasant verändert hat. Einstmals war es eine zuvorderst der Bildung dienende Umgebung mit Aspekten sozialer Interaktion -- heute haben wir es mit einem größtenteils kommerziellen und sozialen Netzwerk zu tun, in dem Information und Lernen zweitrangig und in einigen Fällen sogar überflüssig geworden sind.

Die Erfindung des WWWs hat eine "Point, Click und mach es mir einfach"-Mentalität in eine Welt durchdringen lassen, die niemals zur Benutzung durch nicht technisch interessierte Menschen gedacht war. Daß die Massen mit solch fragwürdigen Hilfsmitteln wie Netscapes integriertem Newsreader oder über das fehlerhafte News-/Diskussionsforums-Interface von AOL auf das Usenet losgelassen werden, spielt eine Schlüsselrolle im fortschreitenden Zerfall des Netzes.

"Ich will doch nur, daß es funktioniert"

Mehr und mehr entwickelt sich eine Mentalität der Hilflosigkeit und der Machtlosigkeit. Viele, die einst nie vom Kauf eines Computers geträumt hätten, sind heute glücklich, Wintel-Technologie zu ergattern -- und dennoch ist die Technophobie noch genauso verbreitet wie einst.

Der Unterschied liegt heute in der breiten Verfügbarkeit von Softwareprodukten, die auf einen immer kleineren gemeinsamen Nenner abzielen: Die häufige Feststellung vieler Leute "Ich bin kein Computermensch", begleitet durch "Ich will nur, daß es funktioniert" wird in einem Maße betont, das sich früher niemand hätte vorstellen können. Newsreader, Mailprogramme, Web-Browser und sogar HTML-Generatoren sollen neuerdings nicht mehr lediglich effiziente und mächtige Werkzeuge zum Datenaustausch zur Verfügung stellen. Sie werden stattdessen künstlich vereinfacht; grundlegende Funktionen und Funktionalität werden geopfert, damit der Benutzer nicht verängstigt wird und denkt: "Das ist zu schwierig" oder "Nur ein Computermensch kann sowas".

In Wahrheit ist das gefährlich: Im großen und ganzen sind GUI-Clients (besonders die für Windows verfügbaren, obwohl es auch für Macs eine ganze Reihe furchtbarer Dinge gibt) aufgeblasene, schlecht programmierte Arbeiten, die einen daran hindern, die eigene Netzerfahrung zu nutzen.

Newsreadern fehlen Filterfunktionen, die es dem Benutzer erlauben, das beste Signal-zu-Rauschen-Verhältnis in den Usenet-Newsgruppen zu erhalten. Sie erlauben das Posten falsch formatierter, optisch unlesbarer Artikel und geben keine Hilfestellungen zu Umgangsformen und Verhaltensweisen im Netz. Daß das zu Problemen führen kann, bedenken die Autoren dieser Software nicht.

Mailprogramme halten sich (oft? manchmal?) nicht an gültige Header- und Codierungsstandards. Sie erzeugen dadurch Mail, die häufig nicht gelesen werden kann.

Web-Browser nehmen unnötig maschinelle Ressourcen in Anspruch und integrieren nur halbherzige Mail- und Newslesefunktionen in ihren Code. HTML-Editoren begrenzen in zunehmendem Maße die Kontrolle des Autors über das Endprodukt und erzeugen aufgeblähten oder fehlerhaften HTML-Code. Gelegentlich erlauben sie nicht einmal das Editieren der fertigen Datei.

Unter dem Etikett "einfach zu benutzen" handelt man sich massenhaft Software ein, die kaum ihre Arbeit tun kann; der Benutzer hat selten die Gelegenheit oder den Antrieb, etwas Besseres zu verlangen.

"Denn sie wissen nicht, was sie tun" oder: Die Entwicklung eines neuen Kastensystems

Irgendwie hat sich die (ungenaue und schädliche) Aussage, nur eine verdammt intelligente Person könne einen Computer (und erst das Netz) benutzen, unterschwellig verändert: Jetzt kann jeder einen Computer oder das Netz benutzen, weil es so einfach geworden ist, daß man nicht mehr wissen muß, was man überhaupt tut.

Möglicherweise ist dies ein Schritt dahin, Computing den Massen nahezubringen, aber man muß dafür möglicherweise einen zu hohen Preis bezahlen: Statt einer Kaste Erleuchteter, die einen Computer bedienen können und einer anderen, die etwas so Kompliziertes nie lernen könnte, bekommen wir eine Kaste, die Vorgänge auf höherem Niveau versteht, und eine, deren Hand man an jeder Wegkreuzung halten muß; die mit hübschen Knöpfen spielen muß, um irgendetwas getan zu bekommen.

Solch ein Kastensystem nagelt einen -- im Gegensatz zu einem lockeren Klassensystem -- an einer Stelle fest, erzeugt und verstärkt strenge Grenzen und erzeugt keinen Antrieb zu Verbesserungen.

Wenigstens eine gute Nachricht gibt es: Man braucht kein Kastensystem.

Wie Sie das Kastensystem durchbrechen ...

Natürlich ist es wahr, daß viele Menschen technisch unbegabt sind und Schwierigkeiten mit dem Lernen in einer computerisierten Umgebung haben (Für solche Leute mag es eine schlechte Idee sein, Internet als Hobby zu erwählen.). Andererseits ist es auch wahr, daß viele Leute in der Lage sind, bis zu einem gewissen Grad Computerkenntnisse zu erwerben, und lediglich vom vorherrschenden Trend der Technikfeindlichkeit abgeschreckt werden. Dabei könnten sie diese Barriere mit ein wenig Zeit und Anstrengung überwinden.

"Aber ich habe keine Zeit dazu!", sagen Sie. "Ich will doch bloß, daß meine Sachen funktionieren: Ich will mich hinsetzen und E-Mail schreiben und bekommen/Usenet-News lesen/im Web surfen/mich mit Leuten unterhalten." Hier sollten Sie innehalten, und sich ein paar Fragen stellen:

Wie Sie sich dagegen wehren, für dumm verkauft zu werden

Wie überwindet man diese künstlichen Beschränkungen und die Technophobie?

Wie hilft Ihnen all dies, Ihre Wirkung auf das Internet zu verbessern?

Wenn Sie nunmehr gute Manieren und Übung im Umgang mit Ihrer Software besitzen, sollten Sie sich die Inhalte genauer anschauen, die Sie zu verschiedenen, Ihnen zugänglichen Foren beitragen.

Während Sie nicht zu wissen brauchen, wie man aus dem Nichts ein Auto baut (Das wird niemand von Ihnen erwarten.), kennen Sie trotzdem nicht nur die grundlegenden Verkehrsregeln. Sie wissen auch, wie Sie Ihren Benzintank füllen und den Ölstand kontrollieren. Die meisten Probleme, die den Leuten im Netz begegnen, drehen sich darum, daß sie die Grundlagen nicht beherrschen, und glauben, sie könnten sie nicht lernen.

Sie können es. Wenn Sie lesen können, können Sie diese Dinge lernen, und mit etwas Entschlossenheit und Zielbewußtsein werden Sie es tun. Dann werden Sie die besten Lösungen für Ihre Probleme selbst herausfinden, ohne sich auf Teilanstrengungen zu verlassen, die Sie letztlich hemmen und behindern.

Und das Beste von allem ist: Sie brauchen sich nicht vorzukommen, als ob der Umgang mit Computern jenseits Ihrer Fähigkeiten liegt.

Ende der Tirade

Natürlich liegt die überlegene Ironie des Ganzen darin, daß niemand aus der Zielgruppe es je lesen wird. seufz

Erläuterungen

Client --
in diesem Zusammenhang: Hilfsprogramm. GUI-Client: Programm mit graphischer Benutzeroberfläche.

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GUI --
Graphical User Interface -- Graphische Benutzerschnittstelle

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Header --
Der Header einer E-Mail oder eines News-Postings enthält (ähnlich einem Briefkopf) wichtige Transportinformationen, zum Beispiel den Absender, den Empfänger, wann und wo das Schreiben abgeschickt wurde, den Titel des Schreibens (Subject), welcher Zeichensatz verwendet wurde usw.

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HTML --
Hypertext Markup Language: Beschreibungssprache für Hypertexte. Hypertext: Dokument, in dem über Querverweise (Links) andere Dokumente angesteuert werden können.

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ISP --
Internet Service Provider

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"Das Netz braucht mündige Benutzer" stammt in der englischen Originalfassung von Beverly R. White und wurde von ihr am 12. Juni 1997 unter der MessageID 5nqe4i$rmc@huitzilo.tezcat.com in der Newsgruppe alt.sysadmin.recovery veröffentlicht.

Peter Berlich übersetzte den Artikel ins Deutsche. Er und Patricia Jung sind für (sprachliche) Anpassung, Bearbeitung und Anmerkungen, die deutschsprachigen Newsgroups betreffend, verantwortlich. Dank an Lutz Donnerhacke für die ursprüngliche "`HTMLisierung"'.

Mit 'ich' meint Beverley sich selbst.

© 1997 B. R. White
© der deutschen Fassung 1997 P. Berlich und P. Jung