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Eine kontroverse Meinung
von Kristian Köhntopp
Unsere Supermärkte sind voll von Waren aus jedem Teil der
Republik, von Früchten und Gewürzen aus tropischen Ländern, von
RIndfleisch aus Argentinien und Fisch aus allen sieben
Weltmeeren. An jedem Stück in den Regalen klebt Blut.
Jeden Tag sterben auf Deutschlands Straßen Menschen und noch
mehr werden verkrüppelt oder verletzt. Jeden Tag werden
tonnenweise Treibhausgase erzeugt, Schwermetalle in die Luft
geblasen und krebserregende Chemikalien erzeugt, um unsere
Regale mit all diesem Luxus zu füllen. Ja, jeden Tag werden
massenweise Güter bewegt und Rohstoffe konsumiert, um noch mehr
Autos zu bauen.
Trotz dieses immens hohen gesellschaftlichen Preises stellt
keine politische Partei die Notwendigkeit von Autoverkehr und
der Automobilindustrie grundsätzlich in Frage. Natürlich wird
versucht, die Anzahl der Opfer von Verkehrsunfällen zu senken
und die Schwere der Verletzungen abzumildern. Aber der
Grundkonsens ist klar: Deutschland kann seine Position als eines
der führenden Industrieländer nicht halten, ohne diesen Preis zu
zahlen. Einzelne mögen auf ein eigenes Automobil verzichten,
aber gesamtgesellschaftlich ist Deutschland ohne durchgehende
Motorisierung nicht funktionsfähig - das ist selbst den
linkesten Ökos klar. Gestritten wird günstigstenfalls über die
Höhe des zu entrichtenden Preises bzw. der Ausgleichszahlungen
in Form von Steuern für diesen Luxus. Außerdem muß jeder, der
den Automobilverkehr grundsätzlich kritisiert und den
Grundkonsens in Frage stellt sich fragen lassen, ob er auf die
ohne Frage nützlichen oder gar lebensrettenden Effekte schneller
Personen- und Güterbeförderung verzichten möchte.
Trotzdem wir alle wissen und akzeptieren, daß Automobile töten
können und immer töten werden, kämpfen wir alle doch um jedes
einzelne Unfallopfer weniger. Jeder von uns trägt jeden Tag
seinen Teil dazu bei, den Straßenverkehr sicherer zu machen.
Kryptographische Verfahren haben für die Handel und Verkehr in
Datennetzen dieselbe Bedeutung wie der Ottomotor für Handel und
Verkehr in der realen Welt. Sie sind der Motor, der virtuelle
Waren- und Geldströme erst richtig beflügeln könnte, das
schlagende pulsierende Herz einer Onlinewirtschaft, die gerade
im entstehen begriffen ist. Ohne kryptographische Verfahren gibt
es in Datennetzen keine Geheimnisse und damit keinen
Informationsvorsprung, der sich an andere verkaufen ließe. Ohne
kryptographische Verfahren gibt es in Datennetzen keine
digitalen Unterschriften und damit keine bindenden Verträge.
Ohne kryptographische Verfahren gibt es in Datennetzen keine
digital von Banken unterschriebenen Geldscheine und damit keine
Währung, für die es sich lohnen würde, überhaupt eine
Onlinewirtschaft zu betreiben. Kryptographische Verfahren sind
die Technologie, die die Onlinewirtschaft aus dem virtuellen
Postkutschenzeitalter in die digitale Industriegesellschaft
katapultieren kann.
Krytoreglementierung bedeutet nicht, auf der Datenautobahn eine
Geschwindigkeitsbegrenzung einzuführen. Eine
Kryptoreglementierung kommt stattdessen einem Verbot von
Ottomotoren gleich.
Es gibt politische Stimmen, die befürchten, daß durch den freien
Gebrauch von Kryptographie Menschen zu schaden kommen können.
Das ist richtig.
Unzweifelhaft wird es durch den allgemeinen Gebrauch von
verschlüsselten Nachrichten und digital signierten Dokumenten zu
neuen, möglicherweise nur schwer aufzuklärenden oder zu
verhindernden Verbrechen kommen. Auch die Erfindung des
Automobils hat ja eine ganze Menge von Delikten überhaupt erst
möglich gemacht: Verkehrsdelikte, Fluchtwagen, Mordinstrument
oder Tarnung von Morden als Unfälle - dazu schleichende
Umweltschäden, die wir in unserer Gesellschaft nicht als
Verbrechen werten. Wie beim Automobil müssen wir wohl auch bei
der Kryptographie einen solchen Preis in Kauf nehmen, wollen wir
die Vorteile dieser Technologie für uns nutzen und an der
nächsten Stufe der industriellen Entwicklung vorne mit dabei
sein.
Wir können uns erlauben, über die Höhe des Blutzolles zu
streiten, den wir entrichten müssen, wenn wir am Zeitalter des
digitalen Kommerzes teilhoben wollen. Aber wenn wir an dieser
neuen Industrie teilhaben wollen, werden wir dafür bezahlen
müssen. Und wenn wir uns entscheiden sollten, Kryptographie zu
reglementieren und damit effektiv zu verbieten, dann müssen wir
uns fragen lassen, ob wir auf die nützlichen oder gar
lebensrettenden Effekte dieser Technologie verzichten wollen.
Der Grundkonsens muß klar sein: Deutschland kann seine Position
als eines der führenden Industrieländer nicht halten, wenn es
auf die Basistechnologie der digitalen Industrie verzichtet -
das ist selbst den rechtesten Hardlinern klar. Einzelne mögen
auf den Einsatz von kryptographischen Verfahren verzichten, aber
gesamtgesellschaftlich ist Deutschland ohne breiten Einsatz von
Verschlüsselungs- und Signiertechnologie nicht konkurrenzfähig.
Wie zentral die Rolle der Kryptographie ist, wird erst deutlich,
wenn man sich unser Land als konsequent Informationstechnologie
nutzend denkt:
Man stelle sich einmal vor, Übertragungen von potentiell
milliardenschweren Neuentwicklungen über ein Datennetz
vorzunehmen, dessen digitale Verschlüsselungstechnologie
eingebaute Sollbruchstellen hat, die Dritten gleich welcher
Legitimation Zugriff auf die übertragene Information zu geben.
Man stelle sich einmal vor, Geldtransaktionen des größeren Teils
der deutschen Wirtschaft mit Schlüsseln zu schützen, die außer
den beteiligten Instituten noch Dritten bekannt sind.
Ist es nicht besser, wenn einige Verbrechen unaufgeklärt
bleiben, weil es keine zentrale Schlüsselhinterlegungszentrale
gibt, als daß auch nur die Möglichkeit bestünde, daß jemand
Zugriff auf die _gesamte_ deutsche Wirtschaft bekommt, weil eine
ebensolche Schlüsselhinterlegungszentrale existiert?
Wir müssen wissen und akzeptieren, daß es solche unaufgeklärten
Verbrechen geben wird. Und wir müssen trotzdem kämpfen, daß es
weniger solche Verbrechensopfer geben wird. Aber wir können uns
dabei auf keinen Fall leisten, auf starke kryptographische
Verfahren zu verzichten, ja wir müssen sogar unbedingt alle nur
verfügbare Energie in die Entwicklung noch härterer Verfahren
stecken und jede nur denkbare Schwachstelle in den vorhandenen
Verfahren ausmerzen.
Aber laßt uns nicht in die Falle von Dorothy Denning gehen: Weil
im Schutze digitaler Kommunikation und Verschlüsselung einige
schreckliche Verbrechen geschehen, können wir nicht auf die
Schlüsseltechnologie des nächsten Industriezeitalters verzichten
- jedenfalls nicht, ohne uns gleichzeitig in die Rolle eines
Entwicklungslandes zu begeben. Wir würden das auch niemals tun,
genausowenig, wie wir die Schließung der deutschen Autobahnen
und die Zerschlagung der Autokonzerne fordern würden, nachdem
wir die Bilder von Unfallopfern gesehen haben - denn wenn wir
das täten, wäre Deutschland im Nu ein Entwicklungsland.
--
Kristian Köhntopp, Wassilystraße 30, 24113 Kiel, +49 431 688897
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